eschreibsel

Niederwild

Dramatis Personae:

Ein Typ im Tarnhemd Kneipengast
Ein Mädchen in Leder ebenfalls Kneipengast
Chico professioneller Erpresser, Softwarepirat und Kopf der Gemeinschaft ehemaliger Häftlinge des Blocks 5 der Henry- Justizvollzugsanstalt auf Somerset.
Thor Tankstellenräuber mangels Qualifikation sowie Block 5er
Patrick Taylor Staatliche Anerkennung als Mörder, ebenfalls Block 5er
Doc Delphi Pharmazeut, Dealer, Junkie und Block 5er
Reefer Yuppie; Block 5er wegen einmaligem Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz
Chenille Reefers Weib, Straßenräuberin ud Block 5er
Herrmann Kits vierjähriger Sohn und notgedrungenerweise Block 5er
Sable Raumjägerdieb, ehemals weißer Rassist und nun Block 5er
Tommy Allen schlechter Profiboxer, schlechter Profieinbrecher und inzwischen Block 5er
Dr. Strieber Arzt
Jeebie Eriksson Mächtig unbeliebter Taschendieb; hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Sable und ist wie dieser Block 5er
Patricia ein Gangmitglied (und zwar bei den Toten)
Fred auch ein Toter
Ein Motorradmann ALDI - Kunde
Metzger ein Toter
Kong ebenfalls ein Toter

Amberton - Distrikt, Xolara, Solaris VII

Tamarind - Mark, Vereinigtes Commonwealth

18. Oktober 3052


Freundlich tätschelte der bullige Typ im Tarnhemd das in Ledersurrogat gehüllte Bein der jungen Frau, die neben ihm am Wirtshaustisch saß.

„Glaub’ mir, mein Kind, das Problem, das der liebe Onkel nicht für dich lösen könnte, gibt es nicht.“

„Ach, wirklich?“ fragte das Mädchen - das allem Anschein entgegen eine ausgewachsenen MechKriegerin war - und entfernte mit geübtem Griff die wurstfingrige Hand von ihrem Schenkel. Ihr genervter Gesichtsausdruck sprach Bände.

„Also gut“. Der Tarnhemd - Onkel verschränkte seine ver-schmähten Finger und ließ die Knöchel knacken. „Ich schla-ge dir folgenden Deal vor: ich löse dein größtes Problem, und ich darf mir ... etwas wünschen, okay?“

Das Mädchen seufzte und hob den Humpen, der ehemals eine Steiner - PPK enthalten hatte.

„Wenn dein Seelenheil davon abhängt, meinetwegen. Aber zuerst mußt du die Luft aus meinem Glas lassen.“

*

Daß Chicos Haus als Notunterkunft, Volksküche und provisorisches Hauptquartier herhalten mußte, war für die übrigen Block 5er eine Selbstverständlichkeit. Erstens war Chico - irgendwie- ihr Chef. Zweitens besaß er ein gewisses Organisationstalent, das sich außer in seinem stets gefüllten Kühlschrank darin ausdrückte, daß der zum Haus gehörende Kellerraum ein Sortiment von militärischem und quasimilitärischem Handwerkszeug enthielt, das wohl selbst die örtliche Polizei zum Geifern gebracht hätte. Drittens befand sich das Haus in einer Sackgasse...

Das sah zwar im ersten Moment ganz danach aus, als könnte es notfalls die Verteidigung erschweren, aber dafür führte der Hinterausgang zu einer prima Umgehungsroute, auf der man in Sekundenschnelle zum offenen Ende der Straße gelangen und sie effektiv abriegeln konnte. Und viertens...viertens befand sich genau gegenüber eine Kneipe namens „Grenadier“, vor deren Tür regelmäßig wüste Raufereien stattfanden, und das gefiel allen Block 5ern viel besser als die langweiligen Mechduelle im Fernsehen...

Im Augenblick war Chicos Wohnzimmer restlos überfüllt, denn bis auf zwei Ausnahmen war die gesamte Truppe dort versammelt. Thor hatte seine mächtig fette und langhaarige Gestalt auf eine durchgebogene Fensterbank gezwängt, Patrick Taylor - der mit Brille und Stirnglatze wie ein Gelehrter aussah -thronte zufrieden auf einem roten Kunststoffsessel in der Mitte des Raumes, und direkt neben der Tür hatte sich Doc Delphi zusammengekauert. Die Filzwolle, die er als „Haare“ bezeichnete und die so prima zum Rest seiner verwahrlosten Erscheinung paßte, verdeckte sein Gesicht voll-ständig und machte es dem beiläufigen Beobachter unmöglich, seinen derzeitigen Bewußtseinszustand zu bestimmen. Reefer saß mit verknoteten Beinen auf dem fadenscheinigen Teppich und war nervös, weil sein Eheweib noch nicht vom Einkauf zurück war, weshalb er in regelmäßigen Abständen sowohl auf die Uhr sah wie auch seine tolle Fönfrisur mit den Fingern durcheinander brachte.Kit lehnte an der Wand neben der Hausbar, während sich Herrmann an einem ihrer langen, schwarzen Beine festhielt. Herrmann selbst war erst vier Jahre alt und wußte nicht so recht, worauf alle anderen warteten, und weil ihm langweilig war, hatte er einen wohlschmeckenden braunen Daumen in den Mund gesteckt. Sable hockte auf dem zweiten Fensterbrett und arrangierte seine Hosenträger, die seine Beinkleider im Falle eines Gerangels daran hindern sollten, sich an Isaac Newtons Ideen zu orientieren; ihm war garnicht wohl, wenn er mit Herrmann zu-sammen in einem Zimmer sein mußte. Nicht nur deshalb, weil kleine Kinder für gewöhnlich Bananen auf Teppichen zerdrückten, kreischten und sich in die Hosen schissen...nein, jeder hier behauptete, Herrmann sei eine Gemeinschaftsproduktion von Kit und Sable, und er konnte sich nun einmal an keinerlei Kontakt zwischen Kit und ihm erinnern, der einen kleinen Herrmann zur Folge hätte haben können, so einfach war das. Sable haßte Unterstellungen, die ihn betrafen. An-dererseits gab es auch einige Knastsilvesterfeiern, an die er sich überhaupt nicht mehr erinnern konnte, weil er zu besoffen gewesen war...Alkohol war schon eine teuflische Sache, gewissermaßen...

Tommy Allen hatte die Arme über dem „Suche Arbeit“ - T - Shirt verschränkt und verfolgte mit gerunzelter Stirn das laufende Fernsehprogramm, während der Hausherr selbst, der in einem grünen Cordsamtsessel vor sich hin döste, von Zeit zu Zeit einen müden Blick auf den Bildschirm warf.

Schließlich gähnte Chico und knurrte: „Das Drehbuch hätte ich auch schreiben können.“

„Hm“ meinte Tommy, „ich möchte bloß wissen, wie die Typen in den Filmen das immer schaffen. Die lernen eine Thusnelda kennen und hüpfen schon fünf Minuten später auf ihr ‘rum! Meinst du, die haben so’n bestimmtes Parfüm, oder-“

„Allen, ich halt’s nicht aus, schalt um. „

„Aber-“

“Schalt einfach um. Vielleicht kommt ja auf einem anderen Kanal was Gescheites.“

„Oh, ja,“ grinste Tommy. „ Irgendwo im Heft stand, daß heute mittag dieser Ochsenfilm läuft, du weißt schon, wo dieser Typ mit dem Raketenwerfer rumläuft und -“

Chico schafffte es, mit ein und derselben Bewegung sowohl den Fernseher auszuschalten als auch Tommy Allen einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen.

„Okay,“ meinte er dann. „Themenwechsel. Plenarversammlung. Chenille wird wohl irgendwo im Stau stecken, und ich kann mir nicht vorstellen, daß Jeebie uns ausgerechnet heute mit seiner Anwesenheit beehren wird, wo er sich schon fast zwei Wochen lang nicht mehr hat blicken lassen. - Oder möchte noch irgendwer auf die beiden warten? Nein? Schön.“

Chico streckte sich und schloß dieAugen. „Dann erkläre ich die Plenarversammlung für eröffnet.“

„Äh,“ fragte der dicke Thor und drehte spielerisch eine Haarsträhne um seinen klobigen Finger, „kann mir vielleicht irgend jemand sagen, welcher Blödbär ‘ne Vollversammlung einberufen hat?“

Tommy Allen setzte sich aufrecht hin und holte tief Luft.

„Ich,“ sagte er, und sechs erstaunte Augenpaare richteten sich auf den ehemaligen Boxer. Doc Delphi gab immerhin ein zustimmendes Geräusch von sich, was darauf schließen ließ, daß er wach war.

„Du,“ meinte Taylor und zog eine Braue hoch. „Na so was.- Drf man fragen, weswegen?“

„Hm...“ Tommy, der nicht gerade ein großartiger Redner war, kratzte sich am Kopf. „Also das war so: ich habe gestern zufällig ein Mädchen getroffen, das ich ganz gut kenne. Chrissie - so heißt sie - arbeitet aushilfsweise bei einem alten Arzt, der manchmal-“

„Du brauchst uns nicht um Erlaubnis zu fragen, wenn du heiraten willst,“ grinste Kit, was ihr einen bösen Blick von Tommy einbrachte.

„Bullschitt, darum geht’s doch garnicht,“ fauchte er.. „Es geht darum, daß ich weiß, was mit Jeebie passiert ist! .Jeebie ist nämlich von einer wildgewordenen Touristin mit einem Stiefelkampfmesser angefallen worden, und auf ihm rumge-trampelt ist sie auch noch-“

„Ist er tot?“ fragte Thor hoffnungsvoll, was auch ihm einen von Tommy Allens berüchtigten bösen Blicken eintrug.

„Nein-“

„Schade,“ murmelte der Dicke.

„Also noch einmal: die alte Schnepfe hat Jeebie nicht etwa angegriffen, weil er sie beklaut hätte - dazu kam er nicht -, sondern weil sie ihn mit ihrem Erzfeind verwechselt hat.“ So, wie Allen das Wort „Erzfeind“ betonte, und so, wie er Sable dabei ansah, war ziemlich eindeutig, wen er damit meinte.

Thor brüllte fröhlich auf.

„Sable, mein Alter, sei froh, daß die Alte nicht dich erwischt hat! Aber immerhin: ist schon ausgleichende Gerechtigkeit, oder? Die Toten halten dich für Eriksson, und bumm, zack, hast du dir eine gefangen. Eine alte Krähe hält Eriksson für dich... und rummsdich, fängt er sich eine. - Sag mal: was hast du mit dem Weib eigentlich angestellt?“

„Äh,“ sagte Sable und schämte sich irgendwie, „ich hab’ keine Ahnung , wer das sein könnte. Da gibt’s so viele...“

Thor brüllte noch lauter.

„Wieviele Erzfeinde hast du eigentlich noch, Mann? Sag’ mir bitte, wenn du einen davon siehst, damit ich mich recht-zeitig absetzen kann.- Was hältst du eigentlich von plasti-scher Chirurgie?“

„Das kann er billiger haben,“ meinte Taylor kühl. „Er bräuchte sich bloß den blöden Bart abzurasieren. Dann sähe er nicht mehr im Geringsten so aus wie Eriksson.“

„Ich würde aussehen wie ein Skinhead,“ erklärte Sable. „En-de der Diskussion. Überlaßt die Sorge um mein Äußeres bitte mir selbst, ja? Falls ich es gar icht mehr aushalte, werde ich einfach Kit darum bitten, mir die Fresse einzuschlagen, okay? Und jetzt zurück zum Thema. - Tom, erzählst du bitte weiter?“

*

„Na seh’n Sie, junger Mann,“ frohlockte der alte Dr. Strie-ber, als sich Gunnar Eriksson - den meisten Leuten nur als ‘Jeebie’ und Taschendieb aus Leidenschaft bekannt, dabei war er doch ein mindestens so guter Schütze und ein pas-sabler Schläger - nach einigen Versuchen erfolgreich in die Überreste seiner Bekleidung hineingearbeitet hatte...trotz Gipsarm, bandagierten Händen und zahllosen gebrochenen Rippen.

„Es geht also doch! Übung, wie ich immer zu sagen pflege, macht den Meister.“

Jeebie seufzte, als er die Fetzen seines sündhaft teuren ‘Newe Yorck“- Sweatshirts aufhob, die irgendein Idiot dazu benutzt hatte, ihn zu verbinden. Naja...würde er halt mal wieder jemandem eins abnehmen müssen. Aber blöd fand er’s trotzdem, denn es schadete irgendwie dem Ruf, im Unterhemd auf der Straße herumzulaufen....

„Sie brauchen gar nicht so finster dreinzuschauen, junger Mann,“ meinte der Doktor, „die Arztkosten sind nicht besonders hoch. Ihre Freunde - ich meine, die Leute, die Sie eingeliefert haben, die sind doch Ihre Freunde oder? - also, Ihre Freunde haben die Rechnung schon im Voraus beglichen.“

Jeebies Blick verfinsterte sich noch ein bißchen mehr.

„Ach ja? Find Fie ficher, daff Fie fich nicht felbft bedient haben?“

„Heiliger Blake, nein,“ wehrte Dr. Strieber ab und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. „Als Sie eingeliefert wurden, hatten Sie nicht mal mehr eine halbe C - Note bei sich!“

„Daff ift mir klar, Doc. Daff weiff ich .“ Jeebie lächelte den alten Arzt an. „Aber meine Goldfähne hatte ich noch, Doc. Garantiert!“

Da wurde Dr. Strieber sehr, sehr blaß.

*

„Jedenfalls kam dann plötzlich ein Rollkommando der Toten vorbei und griff auf Jeebies Seite in das Massaker ein. Das hat die alte Nebelkrähe nicht überlebt...Pech gehabt, halt. Dann haben sie Jeebie zu diesem alten Doktor geschleppt - und das ist der Stand der Dinge, soweit ich weiß.“

Sechs Augenpaare starrten Tommy Allen an.

„WAS?“ fragte Reefer, „Häh?“ fragte Thor, und „Wie bitte?“ Kit.

„Moment.“ Sable hob die Hand. Moment mal. Hab ich das richtig verstanden? Jeebie ist von den Toten gerettet wor-den?“

„Genauso muß es gewesen sein.“

„Aber, äh, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, würden ihn die Toten doch am liebsten lynchen, oder?“

„Eben,“ meinte Allen, der etwas verlegen wirkte, „schließ-lich ist er die Nummer 1 auf ihrer Schwarzen Liste Unbe-liebter Personen. - Aber sie würden ihn halt am liebsten selbst entsorgen.“

Kit runzelte die schwarze Stirn. „Woher weißt du von dieser schwarzen Liste?“

Tommy Allen schnitt eine Grimasse, bei der seine Blumenkohlohren exzellent zur Geltung kamen, und sagte, „Laut Chrissie bin ich die Nummer 2.“


Ein paar Augenblicke lang herrschte in Chicos Wohnzimmer Schweigen; Thor, Taylor, Reefer, Kit und Sable sahen ein-ander an.

„Und nun?“ fragte Thor schließlich.

Allen faltete die Hände.

„Und nun sollten wir Jeebie aus dieser Arztpraxis rausholen, ehe die Toten es tun!“

*

Jeebie sah zum Himmel empor. Natürlich war der grau, was auch sonst. Der Rasalhaagier konnte sich nicht daran erin-nern, daß überhaupt jemals die Sonne geschienen hatte, seit er auf Solaris war...

Scheißwetter!

Nun ja, wenigstens hatte sich dieser Tag in einer Hinsicht gelohnt: beim Herumstöbern in der Praxis hatte Jeebie zwar kein Bargeld gefunden, dafür aber doch tatsächlich ein Kästchen mit Goldzähnen. Welche davon seine eigenen waren, kümmerte ihn im Augenblick wenig. Sortieren konnte er die Dinger später immer noch. Was zählte, war, daß er recht gehabt hatte - und Jeebie hatte herausgefunden, daß sich ein Gipsarm prima zum Nasenbeinzertrümmern eignete, frei nach dem Motto, ‘und schlagen Sie Ihren Arzt oder Apotheker’.

Jeebie zog Dr. Striebers Strickpullover enger um sich und beschleunigte seine Schritte.

*

Thor verschränkte die mordsmäßig fetten Arme hinter seinem zotteligen Kopf.

„Ich find überhaupt nicht, daß wir ihm helfen sollten.“

„Hey,“ protestierte Tommy Allen,“was soll das heißen? Jeebie ist unser Kumpel!“

„Du verallgemeinerst, Hundefratze. Eriksson mag ja dein Kumpel sein, aber meiner ist er ganz gewiß nicht! Deiner, Taylor?“

Der schüttelte einmal den Kopf .

„Reefer?“

Der sah auf seine Armbanduhr und tat so, als hätte er nichts gehört.

„Kit?“

„Das Herzchen ist zwar gerissen, aber aber so dumm wie ein Holunderbusch - und bösartig noch dazu. Nicht gerade der Stoff, aus dem meine Freunde sind. -Frage beantwortet?“

„Heiliger Blake,“ kam es da überraschenderweise aus Doc Delphis Ecke, „wir alle mal jung gewest. Wir auch Mist gebaut, nein? Und wir alle alt und vernünftig gewordet. Seid nicht so pingelig.“ Also sprach Doc Delphi und versank wieder in seinem drogeninduzierten Schlummer. Taylor grinste und zuckte die Achseln.

„Vielleicht wird Eriksson vernünftig, aber alt bestimmt nicht. - Was sagst du dazu, mein Alter?“

Sable, der Angesprochene, verdrehte die Augen. „Ich bin nicht dein Alter. Ich bin 35 und jünger als du!- Und ich sage gar nichts, weil ich mich nicht mit euch streiten will! Jeebie mag ja nicht gerade unser aller Favorit sein, aber er hat mit uns im gleichen Zellenblock gesessen. Und er hat mit dazu beigetragen, daß wir jetzt hier im Touristikzentrum des Uni-versums sitzen und nicht auf Somerset im Steinbruch...bei den Clans. Soviel dazu.

- Unser Problem stellen im Augenblick die Toten dar, denn denen gehört, wenn wir es einmal realistisch betrachten , ganz Amberton. Daß wir in Amberton sitzen und nicht in Kalamazoo oder sonst wo-“

„Ich hab doch gleich gesagt, daß Amberton Scheiße ist,“ ließ sich Kit vernehmen. „Hättet ihr auf mich gehört, dann könn-ten wir jetzt in Kalamazoo in der Sonne sitzen und-“

„Kit,“ meinte Chico, ohne die Augen zu öffnen,“ in Kalamazoo scheint die Sonne genausowenig wie hier.“

„Ich war noch nicht fertig,“ schnauzte Sable, den es allmählich zu ärgern begann, daß hier jederR jeden ständig unterbrach. „Wir haben darüber abgestimmt, wo wir hingehen sollten, und die Mehrheit hat sich für Amberton entschieden. Das ist Demokratie, Kit, aber darum geht es im Augenblick gar nicht! Was scheiße ist, ist, daß wir alle formschöne Häftlingsnummern auf unsere Hinterköpfe gestochen bekommen haben. Meine haben unsere toten Freunde schon bemerkt, als sie mich letztesmal in der Mangel hatten, und sie haben reichlich viele dumme Fragen darüber gestellt. Jeebies Nummer haben sie garantiert auch gesehen, schließlich hatten sie Gelegenheit genug dazu...und wenn ich Tom richtig verstanden habe, dann hatte er auch schon so engen Kontakt mit ihnen, daß es ihnen möglich war, seine Nummer zu sehen, richtig?“

„Richtig,“nickte Allen und fuhr mit der Hand über sein Stop-pelhaar. Sable seufzte.„Ich an deren Stelle käme bestimmt auf ganz, ganz dumme Gedanken.“

Taylor nahm seine Brille ab und begann, sie gedankenverloren zu putzen.

„Sie werden annehmen, daß sich eine andere Gang auf ihrem Territorium eingenistet hat.“

„Eben. - Tom, ist dir klar, daß wir Jeebie nicht aus dieser Praxis holen könnten, selbst wenn wir wollten? Wenn die Toten auch nur ein Fünkchen Verstand haben - was ich vor-aussetze - , dann werden sie in der Nähe der Praxis warten, und sollten wir Jeebie dort abholen, brauchten sie uns nur nachzulaufen, um herauszufinden, wo wir uns regelmäßig treffen. Und dann...nun, wir wären für die wohl so eine Art numeriertes Niederwild, schätze ich.“

Alles schwieg.


Dann hob Reefer einen manikürten Finger. „Ja, aber...auch wenn wir nicht dort auftauchen, um ihn abzuholen, brauchen sie doch nur zu warten, bis Eriksson rauskommt...um ihn zu verfolgen...richtig?“

Taylor und Sable sahen sich an; dann sagten beide gleich-zeitig:

„Richtig.“

*

Jeebie fluchte. Kaum war der Bus, den er wohlweislich nicht genommen hatte, an ihm vorübergerauscht, als es zu regnen anfing. Aber richtig. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war Jeebie bis auf die Knochen durchweicht und wünschte sich nichts sehnlicher, als doch mit dem Bus gefahren zu sein. Er zog den Kopf ein und beschleunigte seine Schritte, denn nicht weit von ihm ragte das Vordach eines Supermarktes über den Gehweg, und da konnte man sich zumindest eine Zeit lang unterstellen.

*

„Die Schlunze mit der Augenklappe hätte ihm lieber ein Bein brechen sollen,“ schimpfte Patricia, der das Beschatten bei diesem Wetter schon lange keinen Spaß mehr machte, „dann müßten wir jetzt nicht rennen,“ und just in dem Moment packte Fred, ihr Mit - Toter, sie am Ärmel ihrer Synthleder-jacke.

„Sieh mal,“ rief er aufgeregt und rüttelte an ihrem Arm, „jetzt passiert was!“

Automatisch griff Patricia zu der Autopistole, die sie unter der Jacke trug, aber dann registrierte sie, daß ihre Zielperson lediglich zu einem Typen hingeeilt war, der unter dem Vordach des Supermarktes stand und versuchte, sein Motorrad anzuwerfen. Eriksson und der Motorradmann wechselten ein paar Worte, dann reichte der Motorradmann Eriksson einen kleinen Gegenstand, den weder Fred noch Patricia durch den Vorhang aus Regen erkennen konnten. Eriksson klopfte dem Motorradmann mit der bandagierten Klaue auf die Schulter, dann standen sie noch ein Weilchen einträchtig nebeneinan-der und sahen zum Himmel empor.

Bis ihre Zielperson beschloß, den Regenschutz zu verlassen und wieder die Straße hinab zu eilen, stand Patricia das Wasser bereits in den Stiefelschäften. Sie sah Fred an, Fred sah sie an, dann gab sie Metzger und Kong ein Handzeichen.

*

Sable runzelte die Stirn. „Meinst du nicht, wir sollten die Wohnung räumen?“

„Wir bräuchten Tage, um das Waffenarsenal zu leeren,“ meinte Chico, „und ich sehe nicht ein, wieso wir diesen To-ten irgend etwas kampflos überlassen sollten.“

„Vielleicht, weil sie mehr Leute haben und besser ausgerüstet sind?“ schlug Sable vor, was ihm böse Blicke aus mehreren Richtungen bescherte. Also hob er die Hände.

„Schon gut. Vielleicht gibt es eine bessere Lösung.“

Taylor lächelte freundlich. „Ich wüßte da etwas.“

„Nein,“schnappte Chico, der offenbar genau wußte, woran Taylor gedacht hatte, und jener zuckte die Achseln.

„Hört mal,“ meldete sich Reefer zu Wort, „vielleicht sollte Allen seinen Genossen über die Sachlage informieren. Wenn Eriksson anständig ist, wird er die Toten bestimmt nicht auf unsere Spur führen wollen.“

„Wenn Eriksson anständig wäre, hätte er sich von der Alten umbringen lassen,“ grinste Thor. „Außerdem, wie sollte Allen den Langfinger informieren? Soll er ihm einen Krankenbesuch abstatten?“

„Was ist mit Chrissie-oder-wie-sie-heißt?“ fuhr Reefer unbeirrt fort. „Sie arbeitet bei diesem Arzt, und sie kennt Allen, und der könnte sie anrufen und nach der Nummer der Arztpraxis fragen oder ihr eine Mitteilung für Eriksson durchgeben-“

Tommy Allens Gesicht erhellte sich schlagartig. „Hey, na-türlich, wozu gibt es Telefone!- Chico, darf ich mal

dein-“

Die Wohnzimmertür flog auf, und herein stürmte eine tropf-nasse Chenille. Sie ließ zwei ALDItüten fallen, schüttelte sich und klatschte die kurzen Haare mit den Händen nach hinten.

„Ihr glaubt gar nicht, was los ist,“ keuchte sie. „Ich stehe gerade an der Kasse, und wen sehe ich da, wie er sich von einem Biker eine Kippe schnorrt? - Jeebie Eriksson, bandagiert wie eine Pharaonenmumie. Aber das ist noch nicht alles: bis ich bezahlt habe, läuft er schon wieder munter weiter. Ich zwänge mich also an der Kasse vorbei und will hinterhersprinten, als sich plötzlich zwei Kleiderschränke in schwarzem Leder auf den Biker stürzen, ihm tierisch eine reinsemmeln und dann in ein Auto zerren.“

„Oh,“ sagte Thor. Die Fensterbank quietschte ominös.

„Das habe ich auch gesagt. - Was aber noch viel unange-nehmer ist: da laufen noch ein paar Typen in Lederersatz hinter Jeebie her. Und wenn sie Richtung und Geschwindigkeit beibehalten, müßten sie jeden Moment hier auftauchen.“

„So viel zu deinen Evakuierungsplänen, Sable,“ meinte Chico seelenruhig.

„Soviel zu deiner Demokratie, Chico! Wir haben solange gequasselt, daß wir verdammtnochmal gar nichts mehr tun können! - Weißt du was? Ich wünsch mir einen großen Arsch, der alles zusch-“

„Aber Sable,“ rief Thor vorwurfsvoll und legte einen dicken Finger auf die Lippen, „ das Kind!“

In diesem Moment stand Taylor auf, gähnte, streckte sich und begab sich zur Wohnzimmertür.

„Willst du abhauen, Patrick?“ wollte Chico säuerlich wissen; Taylor seufzte.

„Ich muß Pipi, Craig .“

„Na schön.“ Chico lehnte sich wieder zurück. „Dann geh’ für mich mit.“

Auch Kit löste sich von der Wand und marschierte - Klein - Herrmann im Schlepptau - zu dem Fenster, auf dessen Brett Sable es sich bequem gemacht hatte, und spähte hinaus.

„Ich will niemanden beunruhigen, aber soeben fallen der strunzblöde Herr Eriksson und sein gesamter Fanclub in unsere Straße ein. Sollen wir sie auf ein paar Dosen Bier einladen?“

Thors Kopf schnellte herum, und wie Sable preßte er seine Stirn gegen die Fensterscheibe. Auch Tommy Allen und Reefer trieb die Neugierde in Richtung des Ausgucks, was letztendlich den Hausherrn selbst dazu brachte, seinen geliebten Sessel zu verlassen und einen Blick nach draußen zu riskieren.

Chico seufzte. „Soviel zu Jeebies Intellekt, Leute. - Jetzt können wir nur noch auf zweierlei hoffen-“

„Auf den lieben Gott und den Heiligen Geist?“ schlug Sable säuerlich vor; Chico grinste müde.

„Ich dachte da zum Einen an Herrn Erikssons angeborene Instinkte. Falls wenigstens noch die funktionieren, wird ihn sein Biorhythmus unweigerlich in den „Grenadier“ führen anstatt zu diesem Haus. Um diese Tageszeit war immer noch ein Bierchen fällig...“

„Oh, ist mir so schlecht,“ murmelte Sable, und Thor stellte zweifelnd fest: „Das wäre aber nur ein Aufschub, oder?“

„Immerhin etwas. Vielleicht fällt uns in der Zwischenzeit ja noch die optimale Lösung ein.“

Versonnen zwirbelte Chico den spärlichen Oberlippenbart.

„Und zum Anderen...sind die Optimisten immer die ersten, die sterben. - Delphi, du sitzt gerade neben der Tür; hol doch schon mal ein paar Gyrodinger aus dem Keller.“ Er zog beide Brauen hoch und holte tief Luft. „Schließlich könnten wir uns verteidigen müssen.“

*

Dem sintflutartigen Regen hatte sich inzwischen ein ausgewachsener Orkan hinzugesellt, was Jeebie maßlos ärgerte. Er würde garantiert eine Lungenentzündung bekommen und daran sterben. Garantiert!

Naja, wenigstens konnte er schon den heimatlichen Stall riechen, was ein wenig dazu beitrug, seine Laune zu heben.Ein heißes Bad...trockenen Klamotten...ein gemütlicher Abend vor Chicos Fernseher...

Nach dem Streß der vergangenen Wochen erschien all das Jeebie plötzlich sehr begehrenswert zu sein. Also hielt er schnurstracks auf Chicos Gehäuse zu - als die dezente Beschilderung des „Grenadier“ in sein Bewußtsein drang.

Ein Bier wäre um diese Tageszeit natürlich auch nicht zu verachten...und dann war da noch Violetta, die Bedienung, die er in den vergangenen zwei Wochen nicht hatte terrori-sieren können!

Also korrigierte Jeebie den Kurs in Richtung seiner Stamm-kneipe -

*

„Jaa,“ brüllte Thor, „jaa!“. Chico unterdrückte ein Grinsen.

*

- und blieb mitten auf der Straße stehen -

*

„Was macht er da?“ fragteThor verwirrt. „Was tut er? Wieso bleibt er stehen?“ Chico tat das, was er heute schon sehr oft getan hatte. Er seufzte.

*

- als er sich daran erinnerte, daß er keine einzige C - Note dabeihatte. Goldzähne waren kein allgemein anerkanntes Zahlungsmittel, Violetta machte ihm garantiert nie wieder einen Deckel, und mit dem eingegipsten Arm war es faktisch unmöglich, Leuten Geldbörsen aus den Hosentaschen zu ziehen, ohne daß es ihnen auffiel.

Dann eben später.

Also machte Jeebie wieder zwei Schritte auf Chicos Wohnung zu -

und kriegte einen mächtigen Schlag ins Kreuz. Es krachte, für ein paar Sekundenbruchteile lang regnete es durch Jeebie hindurch, und dann lag er auf der Schnauze.

Daß er sich bei dem etwas unglücklichen Sturz auf das harte Straßenpflaster den eingegipsten Arm gerade noch mal gebrochen hatte, war exakt das Detail, das Jeebie im Augenblick am allerwenigsten interessierte.

*

Ein paar Augenblicke lang herrschte in Chicos Wohnzimmer bis auf Doc Delphis Schnarchen Totenstille; dann raschelte es, als Sable beschloß, wieder unter dem Wohnzimmertisch hervorzukommen. Er klopfte Staub von seinen Domestosjeans und eilte zum Fenster zurück, um seine Neugierde zu befriedigen, während Tommy Allens normalerweise lohfarbene Gesichtshaut ins Sanitäranlagenspektrum hinüberwechselte.

Der fette Thor starrte ebenfalls auf die Straße, den darauf hingebreiteten Rasalhaagier und das sensationslüsterne Pu-blikum, das trotz ungünstigster Witterungsbedingungen aus Fenstern und Türen des „Grenadier“ quoll; sein Mehrfachkinn zitterte vor Empörung.

„Diese Drecksdinger!“

Sable nagte an seiner Unterlippe und meinte: „Das war hinterhältig.“ Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt gekriegt!

„Das war ein Blattschuß“, grinste Kit und zeigte ihre großen, weißen Zähne. „Waidmannsheil!“

Chico bedachte sie mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß, und Reefer schüttelte fassungslos den haarspraygeschützten Kopf.

„Hat das jemand verstanden? Kann mir irgendwer erklären, was das gesollt hat?“

Draußen waren ein paar in schwarzes Kunstleder gekleidete Gestalten zu sehen, die sich mit Autopistolen in den Krallen um ihre Beute scharten.

„Ist doch wurscht.“ Plötzlich verklärte sich Thors Mondge-sicht. „Jedenfallssind wir jetzt fein raus!“

„Vorerst,“ flüsterte Sable, während auf der Straße eine rothaarige Tote beherzt nach Jeebie trat, ihre blutbesudelte Stiefelspitze dann an seiner Hose abwischte und die Achseln zuckte.

Genau dann flog die Wohnzimmertüre auf, und herein kam Taylor.

„Hai,“ begrüßte er die versammelten Block 5er., runzelte dann die Stirn und meinte, „Ihr schaut ja alle so komisch. Habe ich was verpaßt?“

„Hattest du auf der Toilette Gegenwind?“ lautete Chicos kühle Gegenfrage, und erst da fiel Sable auf, daß Taylors Kleidung klatschnaß war.

„Patrick,“ fuhr Chico fort, ohne eine Antwort abzuwarten, „wir haben etwas zu besprechen, glaubst du nicht auch?- Komm mit in die Küche.“

Damit verließ das Oberhaupt der Block 5er den Raum, dicht gefolgt von einem gleichgültigen Patrick Taylor.

Sable sah den Beiden nach, bis sie die Küchentür hinter sich geschlossen hatten, dann schaute er noch einmal auf die Straße hinaus, wo sich die gaffende Menge nach und nach wieder in den „Grenadier“ zurückzog.

„Ich hoffe,“ meinte er schließlich, „ihr habt alle kapiert, daß es sich nicht lohnt, sich mit Taylor anzulegen. Immerhin besitzt er ein Jagdgewehr.“

Tommy Allens plattnasiges Gesicht wurde klosettgrün.

*

„Sag mal,“ fragte der Tarnhemdträger und versuchte, besonders unschuldig dreinzublicken, „diese Typen mit der Seriennummer, die ihr so verzweifelt unschädlich zu machen sucht-“

Er deutete mit dem dicken Daumen auf die Szenerie vor dem Kneipenfenster. „Diese Typen da, du weißt schon...gehören zu denen auch zufällig so’ne langhaarige Fettmorchel und ein Alpdruck mit Blumenkohlohren?“

Das Mädchen starrte ihn verblüfft an. „Blumenkohlohren? Das könnte schon sein. Wieso -“

„Und...“ er senkte verschwörerisch die Stimme, „...so’n wi-derlicher kleiner Skinhead mit Kinnbart?“

„Äh - ja, jaaa! - Aber -“

„Und ‘unschädlich machen’...das würde bedeuten, ihr würdet sie in ihre Einzelteile zerlegen, wie deine Freunde den Kollegen da draußen, oder?“

„Ich - ich denke schon,“ stotterte das Mädchen, und da legte ihr Tischnachbar einen kräftigen Arm um ihre Schultern.

„Und wenn ich dir jetzt sage, wo ihr den Typen finden könnt - kommst du dann noch mit rauf?“

„Wenn du deine Wurstfinger nicht augenblicklich da wegnimmst, dann schneid ich dir was ab!“

„Schade,“ seufzte Martin Francisco Rivera de Tortosa, nahm seine Finger wieder an sich und warf einen letzten Blick aus dem Fenster des „Grenadier“ auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo Fettmorchel, Alpdruck und die ewige Land-plage Smith - oder wie auch immer sich dieses hosenträgertragende kleine Monstrum inzwischen nennen mochte - im-mernoch hinter einer Fensterscheibe hervorlinsten.

Smith, meine Nemesis.

Smith, mein Erzfeind.

Wie gesagt, Smith. ICH bin kein Mörder.

„Aber weißt, du, mein Kind...in diesem Fall sagt der liebe Onkel es dir sogar umsonst.“

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