Irgend etwas stimmte nicht. Es war ganz und gar außergewöhnlich,
daß ihre Tochter sich ohne Widerspruch ins Bett schicken ließ. Schon
den ganzen Abend hatte sie sich erstaunlich ruhig verhalten. Ob sie krank war?
Nun ja, es wäre kein Wunder, wenn der kleine Wildfang sich eine Erkältung
zugezogen hätte. Schließlich hatte sie den ganzen Nachmittag, sobald
sie aus dem Kindergarten zurück war, bei ihren "Freunden ", den
Blumen und Sträuchern im Garten, zugebracht. Dazu war eigentlich nicht
das richtige Wetter. Als sie endlich wieder ins Haus kam, war sie total durchgefroren.
Bestimmt hatte sie sich erkältet. Aber wenn sie genau nachdachte, war Sylvia
schon am Vortag nicht so munter gewesen. Irgend etwas beschäftigte sie.
Und natürlich beschäftigte das auch die Mutter. Ein Lächeln umspielte
ihre Lippen, als sie aufstand, um nach der Kleinen zu sehen. In gewisser Weise
war sie ihrem Vater sehr ähnlich. Ihr zartes Aussehen täuschte darüber
hinweg, daß sie sich gut durchsetzten konnte. Außerdem war sie wesentlich
kräftiger, als ihr Aussehen vermuten ließ. Viele Leute täuschten
sich anfangs in ihr und sahen nur das süße kleine Mädchen mit
den ungestümen hellbraunen Locken und dem klaren blauen Augen. Meist wurden
sie bald eines besseren belehrt.
Jetzt wartete ihre Kleine auf den Gute-Nacht-Kuß. Die Augen ihres Geliebten
sahen sie nachdenklich an, als sie in das Kinderzimmer ging. Es gab ihr einen
Stich ins Herz. Sie war ihrem Vater so ähnlich. Sie verfluchte die Umstände,
die es nicht erlaubten, daß er bei ihnen sein konnte. Warum hatte sie
sich auch ausgerechnet in ihn verlieben müssen? Diese Frage würde
sie bestimmt nie beantworten können. Genausowenig, wie sie die Situation
ändern konnte. Sie konzentrierte sich wieder ganz auf ihre Tochter.
Ihre Stirn fühlte sich kühl an, Fieber hatte sie also nicht. "Was
hat denn mein Spätzchen?" fragte sie ihre Tochter. "Tante Inga
hat gesagt, daß in Blumen keine Menschen wohnen!" bekam sie zur Antwort.
Das war also das Problem. Früher oder später hatte es so kommen müssen.
Natürlich hatte sie sich eine passende Antwort dazu überlegt. Sie
würde ihrer Tochter sagen, daß nicht alle Leute die Menschen in den
Blumen sehen konnten. Und deshalb auch denen, die sie sahen, keinen Glauben
schenkten. Irgendwann würde ihre Tochter dann niemand mehr von ihren "Freunden
" erzählen. Die anderen Leute hielten es sowieso nur für lebhafte
Phantasie. Das war die einzige Möglichkeit, es ihrer Tochter zu sagen.
Aber war es wirklich so? Schließlich sah sie die Blumenmenschen und konnte
mit ihnen reden und spielen. Aber was sollte man von einem kleinen Mädchen
auch anderes erwarten, deren Vater ein Baumnymph war.
Andrea S.
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